Einsatz zwischen Extremen
Diese Ohnmacht, wenn jemand auf offener Strasse erschossen wird, ohne dass die Tat geahndet wird. Diese Freude, wenn es nach langer Dürre endlich regnet und die Menschen jubelnd auf die Strasse rennen. Ein Leben zwischen solchen Extremen führte ich in meinem Einsatz in Kolumbien.
Über ein halbes Jahr bin ich mittlerweile aus Kolumbien zurückgekehrt, und obwohl sie mir schon fast etwas unwirklich erscheint, denke ich gerne an sie, diese andere, unglaublich spannende, oft auch herausfordernde Welt, die die letzten acht Jahre mein Leben ausgemacht haben. «Letztes Jahr um diese Zeit...», kommt es mir dann in den Kopf, «…da war ich in Guapi, Pazifikküste Cauca, wo ich die Organisation Cococauca bei ihrer Arbeit unterstützen durfte. Zu dieser Region gehören neben Guapi auch die Bezirke Timbiquí und López de Micay. Rund 80’000 Menschen leben hier, 85 Prozent sind Afrokolumbianer, sie haben afrikanische Wurzeln, zurückgehend auf die Versklavung und Ausbeutung durch die spanischen Kolonisatoren ab dem 16. Jahrhundert. Umgeben von Mangroven, Flüssen und dem Pazifischen Ozean ist die Region schwer zugänglich.
Steter Kampf gegen Armut und Ausgrenzung
Von staatlicher Fürsorge gegenüber der Zivilbevölkerung kann hier kaum die Rede sein. Die Grundbedürfnisse der Bevölkerung wie sauberes Wasser, sanitäre Einrichtungen, Wohnraum, Ernährungssicherheit oder einfach nur ein Leben in Sicherheit und Frieden mit fairen Chancen auf Selbstbestimmung sind für die Mehrheit der Bevölkerung nicht gewährleistet, über 80 Prozent leben in Armut. Abgesehen von hochspezialisierten militärischen Einheiten, die den Drogenhandel und die in der Region aktiven Guerrillagruppen kontrollieren sollen, geht die Präsenz des kolumbianischen Staates gegen Null. Selbst der 2016 geschlossene Friedensvertrag mit der (damals noch) Farc-Guerrilla konnte daran bisher wenig ändern.
An diesem Kontext arbeitet Cococauca sich ab. Die Comundo-Partnerorganisation ist ein Zusammenschluss afrokolumbianischer Dorfgemeinschaften und Basisorganisationen der Pazifikregion Cauca, die sich seit 1993 friedlich für die Rechte und Verbesserung der Lebensgrundlagen der Schwarzen Bevölkerung einsetzt: Gegen staatliche Kleinhaltung, Diskriminierung, strukturellen Rassismus; für Menschenrechte, Chancengleichheit, Selbstbestimmung und Frieden. Meine Hauptaufgabe war es, den Kommunikations- und Öffentlichkeitsbereich der Organisation auf- und auszubauen, sprich eine öffentlichkeitswirksame Kommunikationsstrategie zu entwickeln; ausserdem unterstützte ich die Organisation bei Projekten.
Für Menschenrechte im Einsatz
Bevor es mich 2016 nach Guapi verschlug, war ich bereits drei Jahre mit Comundo im Einsatz gewesen, in Cali, als Menschenrechtsbeobachterin im Observatorium der Regionalkoordination, einem Netzwerk aus indigenen und afrokolumbianischen Basisorganisationen sowie Diözesen der gesamten kolumbianischen Pazifikregion. Dort war es meine Aufgabe, gemeinsam mit den dem Netzwerk angehörigen Organisationen, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren.
Mehr als einmal bin ich während meiner Zeit in Kolumbien an meine Grenzen gekommen, dennoch habe ich meinen Einsatz immer als Privileg empfunden, über den eigenen Tellerrand hinausschauen zu dürfen.
Unvergessen sind mir die Fahrten um fünf Uhr morgens mit dem Boot durch den erwachenden Manglar, inmitten von Regenmänteln und schläfrigen Compañeros, das blaue Morgenlicht über dem Wasser; ein warmer tapao (Fischsuppe) nach langer Reise; mich schwitzend bei einem arrullo (Musik, Gesang und Tanz aus der Pazifikregion) zu verausgaben oder mit einem curao (Zuckerrohrschnaps) willkommen geheissen zu werden.
Dem Tod näher als anderswo
Und die weniger schönen Erlebnisse, die auch zum Bild gehören: Diese Ohnmacht, wenn schon wieder jemand auf offener Strasse erschossen wird - folgenlos. Die Frustration nach dem sechsten Tag ohne Strom. Wie es ist, wochenlang abwechselnd überteuerten Fisch und Reis zu essen und man beginnt, von einer frischen Tomate zu träumen, weil in einer der fruchtbarsten Region des ganzen Landes keine Lebensmittel angebaut werden, da Coca-Pflanzen rentabler sind als Bananen und die Schiffsfuhre mit den Lebensmitteln aus dem Innern des Landes einfach nicht ankommen will. Dann wiederum die Freude, wenn es nach drei Wochen Dürre endlich aus vollen Kübeln regnet, die Menschen jubelnd auf die Strasse laufen, um sich unter der Dachrinne zu duschen, die Regentonnen sich wieder füllen und man endlich den Rest Wasser wegschütten kann, der schon zum dritten Mal zur Anwendung kam.
Das Leben in der Pazifikregion ist sehr viel unmittelbarer als anderswo. Die Gewissheit, dass es jeden Moment auf so vielfältige Art und Weise zu Ende sein kann, macht alles intensiver.
Wer jetzt nicht lebt, bekommt möglicherweise keine Gelegenheit mehr dazu. Im Grunde ist dieses Gesetz universal, aber wer setzt das schon um. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die Corona-Pandemie in Guapi kaum von Belang zu sein scheint. Corona kann tödlich sein, aber in der Pazifikregion ist es nur einer von vielen Viren, eine von vielen Krisen. Wahrscheinlicher ist, dass dich der Rassismus tötet oder die Armut oder die Ungerechtigkeit. Und eben, weil man nicht weiss, wie lange einem bleibt, tut man das Naheliegendste: Man lebt mit allem Drum und Dran im Hier und Jetzt. - Manchmal sehne ich mich nach dieser Unmittelbarkeit. Dann weiss ich, die acht Jahre waren gut investiert. Und ich würde es jeder Zeit wieder tun.
Publiziert im März 2022
Juliette Schlebusch
Die Ethnologin war 2013 bis 2016 mit Comundo bei der Partnerorganisation Coordinación Regional del Pacífico Colombiano und 2016 bis 2021 in Guapi bei der Partnerorganisation COCOCAUCA im Einsatz.