UPDATE: Dramatische Entwicklung in Kolumbien
Am 28. April begann ein landesweiter Streik, nachdem die Regierung von Iván Duque eine für die Mehrheit nachteilige Steuerreform angekündigt hatte. Soziale Demonstrationen waren die Folgen, die Regierung antwortete mit Unterdrückung. Einen Monat später dauern die Proteste immer noch an. Die Folgen: Eine große Anzahl von Toten, Verschwundenen oder Verletzten. Comundo ist besorgt und analysiert die Situation. Eine Einschätzung unseres Comundo-Landesbüros in Bogotá.
UPDATE: 31.5.2021
"Die bösen Jungs sind selten", sagt ein Kolumbianer, der ein Schild auf einer Straße in der Hauptstadt trägt. Die Anspielung gilt einer Kultur der Gewalt, die in Kolumbien vorherrscht und von einer Minderheit am Leben gehalten wird. Die Zivilbevölkerung leidet unter jahrelangen Massakern und Terror durch das Militär und Guerillagruppen, Drogenhändlern und Paramilitärs. Besonders betroffen sind nach wie vor ländliche Gebiete, wo der Staat oft nicht existiert. Trotz des Friedensabkommens aus dem Jahr 2016 kommt das Land nicht zur Ruhe, der bewaffnete Konflikt hält an.
Das Land kämpft mit einer ungleichen Verteilung des Reichtums, die historisch gewachsen ist und unter der heute Millionen von KolumbianerInnen leiden. Die Covid-19-Pandemie hat die Situation noch verschärft, die reduzierten Einkommen machen Vielen stark zu schaffen. Ende April gab das Amt für Statistik (DANE) bekannt, dass von den 50 Millionen Einwohnern des Landes 42,5 % von weniger als 83 CHF pro Monat leben und 7,5 Millionen mit weniger als 36 CHF überleben.
Müde von falschen Versprechungen
Junge Menschen sind besonders betroffen. Müde von falschen Versprechungen, repräsentieren sie die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die weiterhin friedlich auf die Straße gehen, um zu protestieren und ihre Rechte einzufordern. Die Reaktion der Regierung ist eindeutig: Die Demonstranten werden als "Vandalen und Terroristen" abgestempelt, was ein hartes Vorgehen der ESMAD, der gefürchteten kolumbianischen Bereitschaftspolizei, rechtfertigt. Die Folgen: Laut der NGO Indepaz (www.indepaz.org.co) gab es bis zum 29. Mai 66 Tote, mehr als die Hälfte davon in Cali.
Tote und Verletzte auch bei Partnerorganisation
Unter dem willkürlichen und illegalen Vorgehen leiden auch die Partnerorganisationen von Comundo. So wurden Mitglieder der Organisation Consejo Regional Indígena del Cauca (CRIC) erschossen und zehn Personen verletzt, als sie zur Unterstützung der Demonstrationen von Popayán nach Cali reisten. Darunter auch Mitglieder des Teams, mit dem unsere Fachperson Silvia Ramirez in Popayán zusammenarbeitet.
Die Schweizer Regierung ihrerseits äussert sich einmal mehr diplomatisch: «Die Schweiz verfolgt die Situation in Kolumbien mit Sorge. Friedliches Demonstrieren ist ein Menschenrecht. Wir bedauern die Toten und Verletzten und erinnern an die Verpflichtung, die Menschenrechte zu achten. Wir rufen alle dazu auf, nicht auf Gewalt zurückzugreifen und hoffen, dass eine Lösung durch Dialog gefunden werden kann.»
Foto ©Comundo/Andreas Hetzer
Und was ist mit der Steuer- und Gesundheitsreform, die ursprünglich im April das Fass zum Überlaufen gebracht hat? Unterdessen hat die Regierung die Reform aufgegeben, der Außenminister und der Hohe Kommissar für Frieden sind zurückgetreten. Und eine Interamerikanische Menschenrechtskommission wird Kolumbien besuchen, um einen Bericht zu erstellen. Doch Verhandlungen zwischen der Regierung und dem nationalen Streikkomitee lassen nach wie vor auf sich warten.
Unnachgiebigkeit verheisst nichts Gutes
Die kurz- und mittelfristigen Erwartungen sind eher düster. Vorerst hat Präsident Duque am 29. Mai per Dekret den koordinierten Einsatz der Armee an der Seite der Polizei auf 7 Departements ausgeweitet, um "den Ereignissen, die zu einer ernsthaften Störung der Sicherheit und des Zusammenlebens führen, zu begegnen und sie zu überwinden".
Einige Analysten sagen daher für die kommenden Monate und bis zu den Wahlen im Mai 2022 weitere Wellen der Gewalt voraus. Wie friedlich dann die bisherigen Demonstrationen noch sein werden, ist bei dieser geplanten Repression fraglich. Insbesondere, wenn die neue Generationen ihr Recht auf ein Leben in Frieden lautstark einfordert.
Comundo steht für den Dialog
Das Engagement von Comundo in Kolumbien begann vor mehr als 60 Jahren mit den Missionaren der Bethlehem Mission Immensee. Die Unterstützung der Friedenskonsolidierung auf der Grundlage sozialer Gerechtigkeit ist bis heute der rote Faden unserer Arbeit vor Ort. Aktuell unterstütz Comundo vor allem die junge Generation bei der effektiven Wahrnehmung ihrer Rechte und ihrer aktiven Beteiligung an der Friedensförderung mit dem Ziel, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Diese Arbeit erscheint im neuen Licht der Ereignisse umso wichtiger, als dass der anhaltende soziale Protest stark von jungen Menschen getragen wird.
In Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen vor Ort engagiert sich Comundo mit 9 Fachleuten für die Friedensbildung und gewaltfreie Konfliktbearbeitung, die Wahrnehmung von Menschenrechten (territoriale und ökologische) sowie die rechtliche und psychosoziale Unterstützung von Konfliktopfern. Dabei sind wir vom Dialog als einziger Weg nach vorne überzeugt (Erfahren Sie mehr: www.comundo.org/kolumbien)
Schweizer Fachleute in Sicherheit
Alle Schweizer Entwicklungshelferinnen und -helfer von Comundo sind aktuell in Sicherheit und beobachten täglich die Entwicklung der Situation mit ihren jeweiligen Partnerorganisationen. Mit ihnen allen steht unsere Landesprogrammleitung in regelmässigem Kontakt; sie berichten gemeinsam laufend über die Lage in Kolumbien. Nachfolgend ein paar persönliche Einschätzungen:
Julia Maria Schmidt, Comundo-Fachperson in Bogota:
«Gemeinsam mit den KollegInnen meiner Partnerorganisation war ich bei verschiedenen Kundgebungen dabei, die es momentan im Rahmen des landesweiten Streiks in Kolumbien gibt. Wir haben vor allem einige künstlerische Aktionen und Zeichen von Solidarität begleitet und dokumentiert. Überall wo wir unterwegs waren, haben wir eine friedliche Atmosphäre erlebt. Alle Personen mit denen wir sprachen, sagten uns, dass sie sehr besorgt sind über die unverhältnismäßige Polizeigewalt, die es vom ersten Tag der Proteste vielerorts gab und dass dies ein wichtiger Grund für sie sei, auf die Straße zu gehen und friedlich zu demonstrieren.»
Andreas Hetzer, Comundo-Fachperson in Cali :
«An den verschiedenen Blockadepunkten in der Stadt Cali versammelt sich vor allem eine junge Generation, die für eine hoffnungsvolle Zukunft und ein Land in Frieden protestiert und kämpft. Es geht mittlerweile um weit mehr als um die Diskussion einiger Reformen. Die Jugendlichen wollen einen grundlegenden Wandel in Kolumbien, der ihnen Zugang zu Bildung, Berufschancen und eine garantierte Gesundheitsversorgung ermöglicht. Es bedarf dringend eines Dialogs, der die legitimen Forderungen der Protestierenden – vor allem der jungen Generation – ernst nimmt und politische Lösungen für die Krise findet.»
Anna Lena Diesselmann, Comundo-Fachperson in Cali :
«Die Direktion Reconciliación y Paz sucht eine friedliche Lösung für Auseinandersetzungen und hilft Betroffenen in konfliktiven Stadtteilen dabei, aus Gewaltdynamiken auszusteigen. Die aktuellen Proteste müssen als Ausdruck einer jahrzehntelangen sozialen und politischen Spaltung des Landes gesehen werden. Unser erstes Ziel ist es, Menschenleben zu schützen und weitere Vergehen gegen die Menschenrechte zu verhindern. Wir sind Tag und Nacht ansprechbar und begleiten die Demonstrationen als Beobachter/-innen. Frieden gibt es in Kolumbien nur mit mehr sozialer Gerechtigkeit.»
Jonas Rüger, Comundo-Fachperson im Cauca :
«Ich unterstütze im Menschenrechtsprogramm des Consejo Regional Indígena del Cauca (CRIC) Monitoring und Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen, das spielt auch im Kontext der aktuellen Proteste und der repressiven staatlichen Reaktion darauf eine wichtige Rolle. So konnten wir beispielsweise bereits 12 Angriffe mit Schusswaffen auf Demonstrant/-innen dokumentieren, meist ausgeführt von unidentifizierten Zivilist/-innen, aber häufig in Begleitung oder direkter Nähe von Polizist/-innen, die in keinem Fall eingeschritten sind. Bei einem dieser Angriffe wurde eine enge Kollegin und Freundin schwer verletzt.»
Kontakt für Fragen
Wir stehen jederzeit allen Familien und Verwandten zur Verfügung, die mehr Informationen über die Sicherheit unserer Fachleute und die angespannten Situation in Kolumbien haben möchten.
Frau Mathilde Defferrard, Colombia Program Manager, beantwortet gerne Ihre Fragen per E-Mail: mathilde.defferrard@comundo.org
Webinar am 7. Juni
Am 7. Juni fand ein von PBI, ask! und Comundo gemeinsam veranstaltetes Webinar zur Situation in Kolumbien statt. Hier finden Sie die Zusammenfassung (auf Deutsch) und die Aufzeichnung (auf Spanisch) dieses Austauschs.