Wie Lina die Welt verändern will
Die Stärkung der Frauen ist ein Schlüssel zu einer gerechteren Gesellschaft. Davon ist die junge Kolumbianerin Lina überzeugt, die kürzlich in den Jugendrat von Jamundí gewählt wurde. In dieser Funktion will sie zu einem Wandel in der Gesellschaft beitragen. Comundo-Fachperson Anna Lena Diesselmann begleitete die Jugendliche von der Kandidatur bis zur Wahl. Hier ihr Beitrag zum internationalen Frauentag vom 8. März.
Mit ihren gerade mal 14 Jahren hat Lina die Wahl zur Jugendrätin in ihrer Stadt gewonnen. Was für ein Erfolgserlebnis für das einst schüchterne Mädchen! Sie vertritt nun die Interessen der Jugendlichen von Jamundí, einer Gemeinde der kolumbianischen Region Cali. Das letzte Jahr habe ich die Jugendliche im Rahmen meiner Tätigkeit bei der Comundo-Partnerorganisation Vicaría para la Reconciliación y la Paz beim Aufbau einer Jugendgruppe begleitet.
«Der Aufbau der Jugendgruppe geschah aus dem Bedürfnis heraus, inmitten von Gewalt und grosser Armut einen sicheren Ort für Kinder und Jugendliche zu schaffen. Einen Ort, wo unterschiedliche Gangs zusammentreffen und Konflikte konstruktiv angegangen werden können.» Anna Lena Diesselmann
Empowerment-Programm für Frauen
Die für ihr Alter hochgewachsene Lina lebt mit ihrer Familie in Jamundí, unter einem Dach mit ihrer Mutter und ihrer Grossmutter: Drei starke und selbstbewusste Frauen aus drei Generationen. Ihre Grossmutter bildete damals vor drei Jahren für Lina die Brücke zu unserem Empowerment-Programm für Frauen: «Eines Tages nahm meine Grossmutter mich einfach mit», erinnert sich Lina: «Fertig, los ging ́s!» In dieser Zeit litt Lina sehr unter dem Verlust ihres Freundes, der Selbstmord begangen hatte. Ihre Grossmutter und ihre Mutter wollten ihr dabei helfen, ihre negativen Gedanken zu überwinden und ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Sie hatte damals kein sehr starkes Selbstbewusstsein und litt unter einer Depression.
«In dem Empowerment-Programm lernte ich, mich auszudrücken, nicht allein mit meinen Gedanken und Problemen zu bleiben und meine Schwächen anzunehmen. So konnte ich langsam wieder gesund werden.» Lina
Eigene Friedenskurse gegründet
Doch nach zwei Jahren wurde die Gruppe, die in Linas Leben so zentral geworden war, geschlossen. Zurück blieb eine innere Leere. Lina vermisste die wöchentlichen Treffen mit den anderen. «Was ich selbst als Privileg erlebte, wollte ich weitergeben», erzählt sie heute. «Ich fühlte mich dazu berufen, anderen zu helfen, die wie ich früher keine Stimme hatten und nicht wussten, wie sie sich ausdrücken und die ganze Last des Kummers und der Traurigkeit auf ihren Schultern tragen sollten. So entstand die Idee, die Kurse zu Mediation, Friedensbildung und Menschenrechten an meiner Schule weiterzuführen», erzählt Lina, «damit kann Gewalt vorgebeugt und ein Teil zu einer friedlicheren Gesellschaft beigetragen werden.» Gesagt, getan. Monatelang unterrichtete Lina ihre Mitschülerinnen und Mitschüler jeweils am Nachmittag im Anschluss an den Unterricht. Dann kam die Pandemie und der Begegnungsort musste von der Schule auf einen öffentlichen Platz verlegt werden. Lina liess sich auch durch diesen Umstand nicht entmutigen – schliesslich war das gegenseitige Zuhören angesichts von Unsicherheit und existentiellen Nöten während der Krise besonders wichtig.
Zur jüngsten Jugend-Stadträtin gewählt
Nun ist Lina zur jüngsten Vertreterin im Jugend-Stadtrat gewählt worden. Zur Ernennung der 21 jugendlichen Abgeordneten hielt ich eine kleine Rede, gratulierte Lina und den anderen Jugendlichen und wünschte ihnen viel Kraft und Energie. Vielleicht kann die Teilhabe an demokratischen Strukturen ja doch etwas bewirken. Lina kandidierte vor allem mit dem Vorhaben, Jugendliche und junge Frauen zu unterstützen. Misshandlungen und sexualisierte Gewalt sind in Kolumbien Alltag. Immer wieder kommt es auch zu Frauenmorden und während der sozialen Proteste im letzten Jahr haben selbst Polizei und Militär Frauen und Mädchen bei Festnahmen vergewaltigt und gefoltert. Allerdings können solche Übergriffe auch in jeder Familie und auf der Strasse vorkommen.
Sensibilisierung als erster Schritt aus der Gewaltspirale
Warum zeigen Opfer Übergriffe und Gewalthandlungen oft nicht an? Viele Frauen hätten sich daran gewöhnt, hinter Männern zurückzubleiben, meint Lina. Sie hätten ein geringes Selbstwertgefühl, weil immer jemand über sie urteilt: hässlich, dick, dünn, nutzlos... Und Frauen würden ihre Rechte oft gar nicht kennen, das sei das vorrangige Problem. Gewaltakte – nicht nur gegen Frauen – werden in Kolumbien stark normalisiert. Der erste Schritt hin zu einer friedlicheren Gesellschaft geht daher über die Sensibilisierung und den Aufbau von Vertrauen und gewaltfreien Beziehungen.
«Lina ist ein Vorbild für viele ihrer Freundinnen. Sie will studieren und setzt sich ihre eigenen Ziele: Sie möchte die Stellung der Frauen in der Gesellschaft stärken, denn darin sieht sie auch den Weg zu einer gerechteren Gesellschaft.» Anna Lena Diesselmann
Von Anna-Lena Diesselmann | 8. März 2022 | Kolumbien
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