Wenn ein Theater heilt
Ich lernte Yolanda Diaz Mansano durch meine Arbeit bei FORCULVIDA kennen. Sie war vor der allgegenwärtigen Gewalt durch bewaffnete Gruppen aus ihrer Heimat nach Aguablanca geflüchtet. Wir bereiteten zusammen mit einigen anderen älteren Menschen eine Theateraufführung vor. Es war ein Werk, das die geschehene Ungerechtigkeit nicht wieder gut macht, aber dazu beiträgt, alte Wunden zu heilen.
«In der Nacht des 17. Februar 2006 drangen bewaffnete Männer in unser Haus ein und erschossen meinen Mann. Sie maltretierten mich mit Fäusten und Tritten, aber ich hielt sie zurück. Meinem Sohn gelang die Flucht, sie schossen auch auf ihn, trafen ihn aber nur mit einem Streifschuss.»
Yolanda Diaz Mansano ist 61 Jahre alt und rettete ihrem Sohn das Leben. Dabei erlitt sie 17 Stiche in den Kopf. In dieser Nacht lief sie von zu Hause weg und das Leben führte sie nach Aguablanca. Um zu verstehen, was ihr zugestoßen ist und warum ich sie als doppeltes Opfer betrachte, muss ich zuerst vom bewaffneten Konflikt erzählen, der in Kolumbien seit 60 Jahren wütet.
8 Millionen Vertriebene in 60 Jahren Konflikt
Der bewaffnete Konflikt in Kolumbien ist einer der längsten Konflikte in der Geschichte Südamerikas. Er löste den größten internen Migrationsstrom aus: Mehr als 8 Millionen Menschen haben ihre Heimat bereits verlassen, und die Zahl steigt weiter an. Aguablanca, ein riesiger Bezirk mit fast einer Million Einwohnern am Stadtrand von Cali, wurde zum Teil von diesen Vertriebenen gegründet. Sie liessen sich so gut es ging in Reisfeldern und Sümpfen nieder, die mindestens zweimal im Jahr überschwemmt werden. Aber nicht alle von ihnen waren Bauern, Fischer, Lehrer und Hausfrauen; auch Paramilitärs, Ex-Militärs und Drogenhändler liessen sich nieder. Schon bald fand sich diese flüchtende Bevölkerung erneut in einem sehr gewalttätigen Umfeld wieder mit sehr wenigen Beschäftigungsmöglichkeiten. Viele Frauen haben bei den internen Kämpfen in Aguablanca auch Ehemänner, Kinder oder Enkelkinder verloren; ihre Leben sind somit oft von vielen Verlusten und extremer Armut geprägt.
Doppeltes Opfer
Was mich an Yolandas Geschichte am meisten beeindruckt, ist die Tatsache, dass sie in all den Jahren nie richtig medizinisch betreut wurde, nicht einmal ein Gehirnscan wurde durchgeführt, trotz all der Schläge, die sie erhalten hat. Diese Misshandlung der Opfer, die fehlende Aufmerksamkeit für sie, bedeutet, dass sie zweimal zum Opfer werden!
«Die Wunden in meinem Kopf sind verheilt, aber die Wunden in meiner Seele sind leider noch da. Gewalt hinterlässt viele Folgen in der Seele eines Menschen. Doch diese Wunden verheilen am schwierigsten.» Yolanda Diaz
Helfen Sie jetzt, dass Frauen wie Yolanda nicht weiter Opfer des Krieges bleiben und endlich gehört werden.
Die körperlichen Folgen des Angriffs sind nicht zu unterschätzen: «Durch die Schläge habe ich starke Schmerzen im Kopf und im Rücken, ich bin fast völlig taub und kann nicht arbeiten», erzählt Yolanda. «Ich fühle mich nutzlos, aber das finde ich nicht richtig!». Yolanda fühlt sich ohnmächtig und gibt dem Staat die Schuld, der sie nicht beschützt hat, als sie angegriffen wurde, und der ihr jetzt auch nicht hilft, wo sie alt und arm ist.
Befreiende Worte
Yolanda hat an dem Projekt "Pasos y relatos de resistencia" teilgenommen, an dem ich in den letzten Monaten als Dramaturgin beteiligt war, zusammen mit meiner Kollegin der Partnerorganisation FORCULVIDA Jennifer Gómez; sie hat das Projekt koordiniert. Es handelte sich um eine Reihe von Zusammenkünften mit älteren Menschen, die von dem bewaffneten Konflikt betroffen waren.
Wir setzten verschiedene Theater- und Gesprächstechniken ein, um die persönlichen Erfahrungen der älteren Frauen und Männer mit dem von ihnen erlebten Konflikt zu sammeln. Es brauchte mehrere Treffen bis die Teilnehmenden begannen, einige Episoden aus der Vergangenheit in einer Bühnenaufführung vor allen Anwesenden nachzuleben.
Es war ein großes Gemeinschaftswerk, bei dem alle Teilnehmenden genaue Aufgaben hatten und jeder seinen eigenen Beitrag leistete. In der zweiten Phase des Projekts arbeiteten wir mit etwa fünfzig Personen zusammen und erstellten eine Ausstellung über die Ereignisse der letzten 60 Jahre. Wir haben Menschen mit bedeutenden künstlerischen Fähigkeiten ausgewählt: unter ihnen waren Sänger und Musiker, Tänzer und Balletttänzer, Dichter und Dichterinnen, Schauspieler und Schauspielerinnen! Meine Aufgabe war es, mit Jennifer und dem gesamten künstlerischen Team zusammenzuarbeiten und ihnen dabei zu helfen, die stärksten Geschichten in vollem Respekt vor den Menschen zusammenzutragen. Ich unterstützte sie bei der Entwicklung der Dramaturgie des Stücks und beim Schreiben der schwierigsten Monologe, die von der erlittenen Gewalt handeln.
Wir sind letzten Sommer auf die Bühne gegangen und es war ein Erfolg. Leider ist eine unserer Teilnehmerinnen am Tag der Premiere an Covid-19 gestorben. Wir haben ihren Tod geehrt, indem wir unser Bestes gegeben haben. Es war eine sehr herzliche Darbietung, und alle Teilnehmer freuten sich über diese Leistung. Ich sah, wie sich die Älteren während des kreativen Prozesses von ihren Schmerzen erholten, ich sah die Freude und Befriedigung darüber, dass sie es trotz allem geschafft hatten, die Ziellinie zu erreichen. Ich sah, wie diese Personen widerstandsfähiger wurden dank dieser künstlerischen Aufführung. All dies war ein großer Aufwand, der sich aber voll gelohnt hat.
Endlich konnten wir es erzählen
«Die Arbeit mit Alicia hat mir sehr geholfen, weil wir wenigstens die Wahrheit sagen konnten. Wir konnten über den Krieg, die Gewalt und den Schmerz, über das, was uns passiert ist, sprechen. Wir tragen ein sehr schweres Kreuz», erzählt Yolanda erleichtert. «Indem wir mit Alicia und mit Menschen aus anderen Teilen des Landes darüber sprechen konnten, konnten wir unseren Gefühlen Luft machen und unsere Geschichten erzählen. Das Kreuz ist ein wenig leichter geworden.
Die Realität ist, dass in der Region, in der Yolanda lebt, Gerechtigkeit für alle immer noch eine Errungenschaft ist. Es gibt viele Organisationen und Freiwillige, die sich für die Menschenrechte einsetzen, und ich glaube, dass dies im Moment der einzige Ausweg ist: ziviler Widerstand durch Organisationen wie die Comundo-Partnerorganisation FORCULVIDA, die ich seit fünf Jahren unterstütze. «Wir hoffen, dass diese Aufführung dazu beiträgt, dass sich diese Gewalt nicht wiederholt», sagt Yolanda, «damit Kolumbien eines Tages in Frieden leben kann. Unsere Kinder und Enkelkinder haben ein Land in Frieden verdient.»
Von Alicia Aurora Tellez | 14. Juli 2023 | Kolumbien
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