Und wer kümmert sich um die Polizei?
Viele leiden aktuell unter den weltweiten Quarantäne-Massnahmen. Doch es gibt Menschen, die zu ihrem Eigenschutz zuhause bleiben möchten, dies aber nicht dürfen. Die Psychotherapeutin und Comundo-Fachperson Bitia Vargas unterstützt staatliches Sicherheits- und Gesundheitspersonal in der Krise und gewährt uns einen Blick hinter die Kulissen der bolivianischen Polizei.
Seit rund 60 Tagen gilt in Bolivien die Ausgangssperre und die psychischen wie physischen Auswirkungen werden immer deutlicher: Bis Mitte April wurden bereits 1216 Fälle familiärer Gewalt und 33 Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche angezeigt. Solch alarmierende Zahlen zeigen, wie nötig es in Krisenzeiten ist, sich um das psychische Wohlergehen der Menschen zu kümmern. Denn nicht nur der soziale Frieden, sondern die Menschenrechte der verletzlichsten Personen sind in Gefahr.
Mit der Corona-Pandemie wurden nicht nur in Bolivien bereits bestehende Probleme verschärft: Das schon vorher hohe Ausmaß innerfamiliärer Gewalt ist eines von ihnen. Die Sorge um das Einkommen, der Konsum von Alkohol, das Eingeschlossensein, das Bombardement mit schlechten und beängstigenden Nachrichten, dies alles sind in diesen Tagen Auslöser von häuslicher Gewalt. Dabei geht schnell vergessen, dass auch jene leiden, die in der aktuellen Krise besonders gefordert sind, wie bspw. staatliches Personal.
Keine Strategie zum Schutz des staatlichen Personals
Der bolivianische Staat besitzt keine Strategie oder Politik für die Förderung/Bewahrung der psychosozialen Gesundheit, nicht einmal für das eigene Personal. Doch genau jene Mitarbeitenden der Kinderschutzbüros, der Frauenberatungsstellen oder auch der Polizei sind aktuell enormer psychischer Belastung ausgesetzt und besonders gefährdet, seelisch zu erkranken.
Bei der Polizei ist bekannt, dass Alkoholismus verbreitet ist, um der harten Wirklichkeit zu entfliehen, der sie tagtäglich ausgesetzt sind. Ständig mit Fällen von Gewalt zu tun zu haben, verringert im Laufe der Zeit die Fähigkeit, mit den Opfern mitzufühlen und verschlechtert damit auch die Betreuungsqualität.
Intervisionsgruppen und Körperübungen für Polizeipersonal
Seit einigen Jahren setzt sich Comundo für die psychische Gesundheit des Polizeipersonals, insbesondere der Anlaufstellen für Gewaltopfer in Bolivien ein. Denn will man Gewalt nachhaltig bekämpfen, braucht es einen erweiterten Fokus; so u.a. auf jenes staatliche System und Personal, welches sich unter schwierigsten Bedingungen der Bekämpfung annimmt. Es wurden Intervisionsgruppen (zur gegenseitigen Unterstützung) ins Leben gerufen, um Probleme bei der Arbeit oder in den Institutionen zu reflektieren und Lösungen zu suchen. Mit Körperübungen konnten emotionale Belastungen aufgearbeitet und gemildert werden.
Fehlende Schutzanzüge erhöhen psychische Belastung
Uns Fachleuten von Comundo ist klar geworden, wie wichtig diese Instrumente gerade in der aktuellen Krise sind. Deshalb haben wir unsere Kräfte in einer Arbeitsgruppe zur Soforthilfe für die Polizei gebündelt. So stellte sich beispielsweise heraus, dass nicht genügend Polizistinnen und Polizisten über die nötige Schutzkleidung verfügen. Dies hat zur Folge, dass aktuell über 130 Polizistinnen und Polizisten in Bolivien nachweislich mit dem Coronavirus infiziert sind. 100 weitere sind Verdachtsfälle. Drei Polizisten sind an den Folgen von Covid-19 bereits gestorben. Dies führt zu Angst innerhalb der Polizei.
Comundo-Fachleute wie ich bieten deshalb psychologische Begleitung für Polizeipersonal und Angehörige an, die unter Verdacht stehen, infiziert zu sein. Über Whatsapp oder in Zoom-Sitzungen werden sie beraten, wie sie ihre Angst bewältigen und den Stress verringern können. Wie sie sich mit Atemübungen entspannen, und wie sie sich ihrer Gefühle klarwerden, um damit angemessen umzugehen.
“Mach dir einen Tagesplan, und vergiß dabei auch nicht die Zeiten, um Entspannungsübungen zu machen. Nimm dir Zeit, um dich um deine Gesundheit zu kümmern. Trinke einen Kräutertee, oder nehme andere Hausmittel, die das Immunsystem stärken. Auch dürfen nicht die Momente fehlen, in denen man sich ausruht, vielleicht ein Buch liest, einen Film sieht, der Freude vermittelt oder zum Lachen bringt. Und vor allem ist es wichtig, Abstand von den permanenten Nachrichten über den Corona-Virus zu bekommen...”.
Das sind nur ein paar der Empfehlungen, die ich einem Polizeiunteroffizier gegeben habe, der sich jüngst mit dem Virus angesteckt hat.
«Wir müssen endlich zu uns Sorge tragen!»
Während der Gespräche geht es auch darum, die positiven Grundeinstellungen der Personen zu stärken. Unsere Kultur ist sehr stark von der traditionellen Medizin geprägt. Kamillentee oder Inhalationen mit Eukalyptus sind sehr beliebt bei Atemwegserkrankungen. Und solange es nicht aus medizinischer Sicht kontraproduktiv ist, empfehlen wir ihnen, diese Gewohnheiten weiterzuführen. Es verstärkt auch ihr Gefühl, ihre Sache gut zu machen und gibt ihnen Kraft durchzuhalten
“Meine Familie hat mir Eukalyptusöl gekauft. Es ist intensiv, aber ich habe das Gefühl, dass es mir hilft, besser zu atmen. Ich trinke auch Knoblauchsud und Ingwer in Zitronensaft. Ich fühle mich besser, denn ich trage Sorge für mich mit allem, was mir zur Verfügung steht...”, berichtete mir der Unteroffizier hoffnungsvoll.
Fortbildungsangebot für 40 Polizistinnen und Polizisten
Über diese Einzelbetreuung hinaus, koordinieren wir auch übergreifende Massnahmen für die Polizei. Wir starten deshalb gerade ein systematische Fortbildungsangebot für 40 Polizistinnen und Polizisten, die das Gelernte dann an ihre Kolleginnen und Kollegen weitergeben sollen. Es geht um:
- Psychologische Erste Hilfe (Krisenintervention)
- Bildung von Gruppen zur emotionalen Stabilisierung
- Umgang mit Wut
- Körperübungen
Natürlich ist derzeit ein Austausch nur über das Internet möglich, was sich auch auf die Ergebnisse auswirken wird. Aber es bleibt uns nichts Anderes übrig, als die Möglichkeiten auszuschöpfen, die wir derzeit haben, um uns gegenseitig zu unterstützen und zu schützen.
“Ich spüre die Unterstützung, dass ich nicht allein bin, und dass viele Personen mir helfen. Jetzt bin ich stärker und weiß, dass ich die Krankheit besiegen werde. Ich möchte leben, wegen meiner Familie. Deshalb erfülle ich auch alle Aufgaben, die sie mir geben. Es ist so, als würde der Polizeikommandant höchstpersönlich diese Anweisungen geben. Ich bin dankbar dafür”, sagte mir der Unteroffizier nach der letzten Sitzung, als ich eine deutliche Besserung seines Gemütszustands feststellen konnte.
Solche Fälle erfolgreicher Arbeit motivieren, uns weiter zu engagieren. Und sie können auch vielen anderen Familien Hoffnung machen, die Ähnliches erleben. Letztendlich gehört zur Gesundheit auch die seelische Gesundheit, zu der wir in Zeiten des Coronavirus doppelt Sorge tragen müssen.
Unterstützen Sie jetzt den Comundo-Einsatz von Bitia Vargas und helfen Sie mit, Leute in Bolivien vor Covid-19 zu schützen und Betroffene psychologisch zu betreuen.
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Von Bitia Vargas | 13. Mai 2020 | Bolivien
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